„Der Krieg ist nah, das ist schon komisch.“ (Tim Nandelstädt) – Wie sehr beeinflusst der Krieg unsere Lieferketten und wie sehr unsere Lieferketten den Krieg?

Es ging um Globalisierung, um Lieferketten und um Nachhaltigkeit, immer wieder das aktuelle Thema betrachtend, das uns in den Wochen wohl alle beschäftigt: Den Krieg in der Ukraine. Ein Bericht zur Unterrichtsreihe der Praktikant*innen am Röka im 11er LK Sozialkunde bei Herrn Franke zum Thema Lieferketten, die mit einem Expertengespräch mit Tim Nandelstädt, einem deutschen Bauer in der Ukraine, endete.

Im Zeitraum vom 7.-29. März 2022 waren wieder einmal Sozialkunde-Praktikant*innen im Hause. Etwa zur gleichen Zeit lief die erste Phase eines Wettbewerbs von ALDI Nord in Kooperation mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, an dem der Leistungskurs Sozialkunde von Herrn Franke der Jahrgangsstufe 11 am Gymnasium am Römerkastell teilnimmt. Da lag es auf der Hand, dass die sieben Praktikant*innen die Unterrichtsreihe zum Thema „Lieferketten“ planen und halten würden – jede*r durfte eine Stunde übernehmen. Trotzdem blieb die Reihe ein Gemeinschaftsprojekt und mündete in einem Expertengespräch als krönenden Abschluss.

Zunächst stellte sich der Kurs der Frage, was denn eigentlich ‚Globalisierung‘ bedeute, um festzustellen, dass es sich bei der zunehmenden Entstehung weltweiter Märkte um eine komplexe Angelegenheit handelt, die internationale Verflechtungen und dadurch verschiedenste Vor- und Nachteile mit sich bringt. Dies zeigt sich aktuell beispielsweise durch die Abhängigkeit von russischem Öl und Gas.

Mit diesem Vorwissen wurden anschließend Lieferketten genauer betrachtet: vom Anbau oder der Herstellung über den Transport, die Lagerung und den Vertrieb bis zum Endverbraucher wurden die einzelnen Schritte und Akteur*innen betrachtet und dabei die relevanten ökonomischen, ökologischen und sozialen Aspekte herausgearbeitet.

Dies wiederum führte zum Begriff der Nachhaltigkeit und der Problematik, dass Lieferketten sozial, ökologisch und ökonomisch nachhaltiger gestaltet werden müssen. Die Schüler*innen überlegten, wie dies an welchen Schritten der Lieferkette passieren könnte. Als staatliches Mittel wurde das neue deutsche Lieferkettengesetz betrachtet und kontrovers diskutiert. Dieses soll die Menschenrechtslage und die Bezahlung in den Zulieferländern verbessern, fairen Handel etablieren und ein internationales Zeichen setzen. Gleichzeitig lernte der Kurs in Workshops individuelle Möglichkeiten kennen, mehr auf Nachhaltigkeit zu achten und sie zu leben. So informierten sie sich entweder zu verschiedenen Gütesiegeln, zu Alternativen zur konventionellen Landwirtschaft und SoLaWis (solidarischen Landwirtschaften) als Gegenmodell, zu Sharing-Economy-Modellen wie Foodsharing, Vinted oder Carsharing oder darüber, wie viel CO2 eigentlich unsere Lebensmittel verursachen.

Nun hatte der Kurs das große Glück, dass eine der Praktikant*innen im Sommer zu Besuch auf dem landwirtschaftlichen Betrieb „Biorena“ 30km südlich von Lwiw in der Westukraine von Tim Nandelstädt und Torben Reelfs war und Tim für ein Gespräch mit der Klasse gewinnen konnte.

Der studierte Landschaftsplaner und Küstenzonenmanager, der gebürtig aus dem Ruhrgebiet kommt, entschied 2009 mit seinem Kollegen in der Ukraine einen Betrieb zu aufzubauen, wo er zunächst auf 200ha und mittlerweile auf 1000ha Weizen, Gerste, Raps, Soja und Mais anbaut – die Produkte also, die durch den Krieg vor allem im mittleren Osten und in Nordafrika knapp zu werden drohen. Seine Erzeugnisse exportiert er größtenteils nach Odessa und von dort weiter in die Welt; 30% etwa gehen jedoch auch an Mühlen bei Lwiw. Warum er in die Ukraine gegangen sei? Auf der einen Seite sei das die Abenteuerlust, aber auf der anderen Seite lohne es sich auch finanziell. So müsse er lediglich 17€/ha an Pacht zahlen. Zunächst sei es ein Biobetrieb gewesen, doch das habe sich nicht gelohnt, da in der Ukraine noch keine wirkliche Nachfrage nach Bioprodukten bestehe und auch die Maschinen zu schlecht gewesen seien. Er gestand, dass sein Hof und die Landwirtschaft generell momentan wohl kaum nachhaltig sind, solange über 100 Tonnen Liter Diesel pro Jahr für Schlepper gebraucht werden und große Mengen Pflanzenschutzmittel gebraucht werden. Ein Schüler fragte ihn, wo er die Landwirtschaft in der Ukraine in 10-20 Jahren sehen würde. „Da kann ich nur eine stille Hoffnung äußern. Ich hoffe, dass wir in 20 Jahren nicht mehr mit Pflanzenschutz arbeiten. Ich hoffe, dass wir in 20 Jahren zurückgucken auf die Zeit jetzt und sagen: ‚Wie bekloppt waren wir eigentlich, dass wir unsere eigenen Lebensmittel mit Chemie bespritzt haben, das ist ja irgendwie pervers.‘ Weiterhin hoffe ich, dass die Strukturen in der Ukraine kleiner werden […], denn große Strukturen wie wir sie meistens vorfinden kommen ein paar global Playern zugute, aber an sich wünsche ich mir, dass es in Richtung lokaler Bauern anstatt Investoren mit großen Land Banks geht, in Richtung lokaler Bauern, die selber auf ihrem Land arbeiten, ihr Land kennen und so denke ich die Landwirtschaft stabiler wird, als sie das jetzt ist.“

Natürlich kam auch die Frage nach dem Krieg auf und plötzlich wurde Tim Nandelstädt emotional: „Wir sind zu fünft aus der Ukraine weggefahren und als wir dann sicher in Polen waren – wir waren echt aufgeregt […] – den ersten Tag, die ersten Tage haben wir uns echt viel in die Arme genommen, wir haben viel geheult, wir haben die Bilder gesehen und waren echt nur fertig. Ich beschreibe das  immer mit so einer Käferstellung, wenn man auf dem Rücken liegt und nicht so richtig weiß was man machen soll“. Nun versuche er jedoch tatkräftig zu helfen. Nachdem nun wieder Diesel an den Tankstellen erhältlich sei, habe er außerdem entschieden, seine Felder alle zu bestellen, was auf manchen anderen Betrieben in anderen Gebieten der Ukraine nicht möglich sei. Seine 28 Mitarbeiter dürfen wegen landwirtschaftlicher Versorgung auf dem Hof bleiben und sind vorerst vom Militärdienst befreit. Nun bleibt ihm nur zu hoffen, dass er seinen Weizen und all die anderen Produkte in diesem Jahr auch ernten wird.

Wir möchten uns an dieser Stelle noch einmal bei Tim für das offene Gespräch bedanken und wünschen ihm alles Gute für die Zukunft!

Dem LK 11 Sozialkunde wünschen wir außerdem viel Erfolg bei ihrem Projekt zum Thema Lieferketten und ebenfalls alles Gute! Für uns als Praktikant*innen war es jedenfalls eine intensive, lehrreiche und ermutigende Zeit.

(Marie Froehlich)