Filmkritik zum Kinofilm Napoleon (2023) im Auftrag des Geschichtsleistungskurses der MSS11 verfasst von Joshua Ilse

Ridley Scotts „Napoleon“ schreckt nicht davor zurück einen realistischen Blick auf die Brutalität der Zeit zu geben, sei es in packenden und gnadenlosen Kriegsszenen oder der hautnah erlebten Hinrichtung von Marie-Antoinette. 

Die geschickte Nachstellung berühmter Gemälde, wie die Krönung Napoleons (Le Sacre de Napoléon), verleiht dem Film eine gewisse Vertrautheit, auch für diejenigen die sich zuvor wenig mit Napoleon befasst haben, und veranschaulicht wichtige Stationen der Französischen Revolution und Napoleons Leben.
Die Tiefgründigkeit und Komplexität der Beziehung zwischen Napoleon und Joséfine werden durch viele gemeinsame Szenen, des Weiteren auch durch zu viele intime Szenen, eindrucksvoll dargestellt. Die schauspielerische Leistung der Besetzung überzeugt besonders in Momenten von Horror und Verzweiflung, sei es bei den überlebenden Royalisten nach ihrem Aufstand oder den österreichischen und russischen Truppen bei ihrer Flucht in Austerlitz. Die grafische Gestaltung des Films mit dezentem CGI und akkuraten Sets schafft eine überzeugend lebendige Atmosphäre.
Leider leidet der Film unter einigen historischen Ungenauigkeiten, insbesondere bei der Schlacht von Waterloo. Die Verwendung von Gräben und einem Zielfernrohr, das erst Jahrzehnte später erfunden wurde, stellt die gesamte Authentizität des Films infrage. Das Ergebnis der Schlacht scheint im Film schon früh entschieden, obwohl es knapp war, und die falsche Richtung, aus der Blücher auf das Schlachtfeld tritt, sowie die aktive Teilnahme Napoleons, der zu dieser Zeit krank war, an dem Kavallerieangriff tragen zur Verwirrung bei.
Ein großer Kritikpunkt liegt in der Auslassung wichtiger historischer Ereignisse wie den Koalitionskriegen und dem Spanischen Befreiungskrieg. Die mangelnde Ausstrahlung Napoleons im Film wirft Fragen auf, warum die Soldaten ihm auch nach seiner Ersten Verbannung vertrauten und sich ihm erneut anschlossen, und die stark mangelnde Charakterentwicklung hindert das Publikum daran, seine Handlungen vollständig zu verstehen.
Die Synchronisation, insbesondere die unterschiedlich starke Verwendung von Akzenten, erschweren die Zuordnung der Charaktere zu ihrer Herkunft. Einige Charaktere werden nach ihrer Einführung trotz ihrer Wichtigkeit nicht weiter verwendet oder beleuchtet, was, genau wie die großen undatierten Zeitsprünge und Zahlendiskrepanzen, zu Verwirrung führt. Auch Napoleons Vorgeschichte und die Gründe für sein Handeln zu unterschiedlichen Zeitpunkten bleiben im Dunkeln.
Der Film vernachlässigt zudem wichtige historische Aspekte wie die „Verbrannte Erde“-Taktik der Russen während des Russlandfeldzugs. Auch die Darstellung von Napoleons Tod im Film weicht von der historischen Realität ab, und die Symbolik mancher Geschehnisse und Elemente bleibt rätselhaft.

Insgesamt bietet „Napoleon“ beeindruckende visuelle Darstellungen und schauspielerische Leistungen in der Darstellung einiger Schlachten Napoleons und seinen persönlichen Beziehungen, doch die Mängel in der historischen Genauigkeit und Charakterentwicklung sind beschämend, wenn man die Versprechen des Marketings betrachtet. Deshalb kann ich „Napoleon“ nicht an andere Geschichtsfanatiker empfehlen, jedoch ist er durchaus geeignet für diejenigen, die sich lediglich einen groben Überblick verschaffen möchten und insbesondere für Fans beeindruckender Schlachtszenen könnte er interessant sein.

verfasst von Joshua Ilse (MSS 11)